Die demokratische Revolution in der DDR 1989
Dr. Gerhard Sälter
Mit der Öffnung der Mauer im November 1989 war die Geschichte der DDR und der Protestbewegung, die ihr Ende herbeigeführt hatte, schon fast zu Ende. Es brauchte noch einige Monate, um zu klären, wohin die fundamentalen Veränderungen die Menschen in der DDR führen würden, aber es war schnell klar, dass der zwanghaft verhärtete Sozialismus, wie er seit ihrer Gründung im Oktober 1949 vierzig Jahre lang in der DDR bestanden hatte, keine Zukunft mehr besaß. Obwohl die Maueröffnung Beobachter in aller Welt überrascht hat, standen die Ereignisse in der DDR, die dazu geführt hatten, in einer engen Beziehung mit langfristigen Veränderungsprozessen innerhalb und außerhalb der DDR.
Die Welt hatte sich verändert seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, aus dem die DDR und auch die Bundesrepublik hervorgegangen waren, und seit dem Beginn des Kalten Krieges kurz darauf. In diesem Konflikt entstanden Militärblöcke um die beiden Supermächte USA und Sowjetunion, die anfangs allein über Atomwaffen verfügten. Die Mitgliedsstaaten übernahmen die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorstellungen der jeweiligen Führungsmacht. Die Bundesrepublik gehörte dem westlichen und die DDR dem östlichen Bündnis an. Die Aufteilung Europas und der Welt in zwei feindliche Blöcke führte zu einem Lagerdenken, bei dem Politik auf beiden Seiten vor allem danach beurteilt wurde, ob sie mit dem politischen System der Führungsmacht konform ging oder nicht. Regierungen wurden danach bewertet, ob sie die politischen Bestrebungen ihrer Führungsmacht unterstützten, Menschen wurden danach beurteilt, ob sie die Ideologie ihrer Führungsmacht teilten oder nicht. Konformität wurde in beiden Blöcken zu einem zentralen Bewertungsmuster.
Dagegen bildeten sich in Ost und West bald Widerstände heraus, international, in Europa und in der DDR. In Asien und Afrika gewannen Unabhängigkeitsbewegungen an Einfluss, die sich aus dem von den westeuropäischen Staaten errichteten Kolonialsystem zu lösen versuchten. Daraus entstanden in den fünfziger und sechziger Jahren unabhängige Staaten, von denen einige mit der USA oder der Sowjetunion sympathisierten, viele sich aber nicht in die Blöcke des Kalten integrieren wollten. So entstand eine Bewegung der blockfreien Staaten, die mit ihrer verweigernden Haltung zugleich das System der Blöcke selbst in Frage stellte.
Auch unabhängig von dieser Veränderung der internationalen Staatenwelt begannen Menschen sich von den Forderungen nach Konformität zu emanzipieren. In einer Bewegung, die man Counter Cultures nennen kann, begannen vor allem junge Menschen seit den fünfziger Jahren neue kulturelle Praktiken zu erproben. Eine Jugendkultur, die sich von sozialen Zwängen zu befreien suchte, probierte neue Ausdrucksformen in Musik und Kleidung aus, die sie in Konflikt mit den Autoritäten brachte, mit den Eltern daheim wie denen in Schule und Gesellschaft. Jeans, Coca Cola und bei den jungen Männern unmilitärisch lange Haare wurden in den sechziger Jahren ihre Erkennungszeichen. Diese internationale Bewegung fand viele Anhänger, in Ost und West ebenso wie im Globalen Süden. Durch sie veränderte sich der Konsum und ihr einfluss verminderte die Chance, junge Menschen für die Ziele des Kalten Krieges zu mobilisieren. Grenzüberschreitende Kontakte und Medien führten dazu, dass sich diese Gegenkultur und ihre Rollenmodelle über Staats- und Systemgrenzen hinweg verbreiteten. Diese auf eine unabhängige individuelle Lebensgestaltung gerichtete Emanzipationsbewegung blieb oftmals unpolitisch, verband sich jedoch mit verschiedenen Protestbewegungen in aller Welt und kulminierte 1968 in einer internationalen Jugendrevolte.
Ihre Akteure trugen zu einer veränderten Wahrnehmung von Politik bei. Da wo in den fünfziger Jahren ein durch Konformität geprägtes Freund-Feind-Denken vorgeherrscht hatte, wurden andere Kriterien relevant. Die wichtigste Veränderung betraf die Geltung der universellen Menschenrechte. Sie erhielten, auch im Gefolge der Ideen der Blockfreien und der Proteste von 1968 zunehmendes Gewicht. Staatliche Politik wurde immer weniger danach beurteilt, ob sie den ideologischen Vorstellungen (und der Machtpolitik) der jeweiligen Supermacht entsprach, sondern ob sie die Standards der 1948 verabschiedeten Deklaration der Menschenrechte erfüllte. Eine wachsende Anzahl von Menschen aller Erdteile bezog sich auf sie als einen Wertmaßstab staatlicher Politik, eine Entwicklung, welche die Bewertung staatlichen Handelns fundamental änderte bis heute andauert. Es formierten sich unabhängige Bewegungen, welche etwa die Gleichstellung der Frauen, Frieden und einen vernünftigen Umgang mit der Umwelt einforderten und damit immer stärkeres Gehör fanden.
Diese Veränderungen zeitigten in Ost und West unterschiedliche Auswirkungen auf die Gesellschaften und auf die Beziehungen zwischen Staat und Bürgern. Zunächst sahen sich die Autoritäten weltweit durch das unangepasste Verhalten von Jugendlichen und durch politischen Protest gleichermaßen herausgefordert und versuchten sie einzudämmen. Aber die offeneren Gesellschaften des Westens verstanden langfristig flexibler auf diese Herausforderung zu reagieren. Sie adaptierten die Jugendbewegten, Dissidenten und Protestler in ihre Eliten und nahmen Teile ihrer Forderungen auf. In der Bundesrepublik geschah das etwa unter dem Slogan „Mehr Demokratie wagen“. Die Gesellschaften des Ostblocks taten sich da schwerer. Ihre politischen und sozialen Eliten waren eng mit den in Osteuropa herrschenden kommunistischen Parteien verbunden und diese sahen die sich verändernde Jugendkultur und die neuen politischen Bewegungen als eine Infragestellung ihrer Macht. Sie reagierten mit Verhärtung, zunehmender Gängelei, Repression und politischer Verfolgung. Jedoch waren in den achtziger Jahren immer weniger Menschen bereit, dies widerspruchslos hinzunehmen.
Durch diese gewandelte Haltung änderten sich die Erfolgschancen von Protest auch in der DDR. Dort hatte es – wie im ganzen Ostblock – schon seit der Staatsgründung 1949 Resistenz im Alltag, Protest und Widerstand gegen die Diktatur gegeben. Die allein regierende Staatspartei SED und die mit ihr verbundenen Eliten hatten ein politisches, wirtschaftliches und soziales System errichtet, ohne die Zustimmung der Bevölkerung einzuholen. Die Führung der SED hatte gehofft, diese werde sich durch politische Erziehung nachträglich herstellen lassen. Ein großer Teil der Bevölkerung hatte sich dem gefügt und sich in dieses System eingefügt, auch in der Hoffnung, dass die SED wenigstens ihr Versprechen auf einen breiten Wohlstand würde halten können. Jedoch formulierten immer wieder Menschen Widerspruch gegen das Konzept der SED und seine Umsetzung – innerhalb der kommunistischen Partei, aus kirchlichen Kreisen heraus, aus den Resten des liberalen Bürgertums, aber auch in direkter Reaktion auf die Zumutungen kommunistischer Herrschaftspraxis. Sie suchten nach Alternativen und forderten Veränderung. Das hatte angesichts von vielfachen Angeboten der Integration und Belohnungen für Konformität, gepaart mit einer herrschaftlichen Durchdringung der Gesellschaft und politischer Repression, bisher allerdings wenig Erfolge gezeigt.
Das änderte sich in den achtziger Jahren. Nun hatte es die SED mit einer Bevölkerung zu tun, die von ihrem Wohlfahrtsversprechen zunehmend enttäuscht war, ihren Lebensstandard mittels der überall verfügbaren Westmedien mit dem im Westen verglich und sich nicht weiter auf eine goldene, aber ferne Zukunft vertrösten lassen wollte. Viele Menschen waren von der internationalen Jugendkultur geprägt und wollten sich ihre Lebenswege nicht mehr von alten Männern und den Funktionären in den staatlichen Einrichtungen der DDR vorschreiben lassen. Mit dem langsamen Entstehen unabhängiger politischer Gruppen mit den Themen Frauenrechte, Frieden und Umwelt entstand die Basis einer Protestbewegung, die sich ebenfalls an den Menschenrechten und der Forderung nach „mehr Demokratie“ orientierte.
Ihre Erfolgsbedingungen waren im Vergleich zu früheren Zeiten auch deswegen deutlich besser, weil solche Bewegungen seit den siebziger Jahren im ganzen Ostblock entstanden waren und sich zunehmend miteinander und mit Partnern im Westen vernetzten. In der Tschechoslowakei entstand 1977 mit der „Charta 77“ eine Menschenrechtsbewegung. In Polen gewann in den achtziger Jahren die unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc eine breite Basis. Auch in der DDR begannen sich die Bürgerrechtsgruppen miteinander zu vernetzen. Solche Gruppen wurden zu Katalysatoren der Revolution, nachdem sich die Führungsmacht des Ostblocks, die Sowjetunion, 1988/89 von dem Anspruch verabschiedet hatte, die Loyalität aller Staaten der kommunistischen Welt und ihrer Bürger notfalls mit Waffengewalt zu erzwingen.
Diese Veränderung in der Sowjetunion hatte verschiedene Ursachen, unter denen wirtschaftliche wahrscheinlich die wichtigsten waren. Sie befand sich seit dem Ende des zweiten Weltkriegs mit den USA in einem Rüstungswettstreit, der enorme Ressourcen verschlang und den die Sowjetunion zu gewinnen immer weniger hoffen konnte. Die USA und ihre Verbündeten in Westeuropa wiesen seit den siebziger Jahren eine steigende Produktivität auf, die ihrem kapitalistischen Wirtschaftssystem auch im Globalen Süden eine wachsende Attraktivität bescherte und an welche die Sowjetunion nicht anzuschließen vermochte. Nicht nur die zunehmende Distanz in der wirtschaftlichen Potenz, sondern auch die Rückbesinnung auf die emanzipatorischen Ansprüche der kommunistischen Bewegung führte dazu, dass sich auch dort Reformbestrebungen durchsetzten. Mit dem neuen Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Michail Gorbatschow, kam ein Funktionär an die Macht, der einen Umbau des Staates und größere Transparenz versprach. All diese Prozesse wirkten in der DDR zusammen: eine veränderte Wahrnehmung von Politik in der Bevölkerung, wachsende Enttäuschung und Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Entwicklung und die gewachsene Bedeutung der Menschenrechte führten dazu, dass die noch immer kleinen und in der Gesellschaft wenig verankerten Gruppen von Dissidenten und Bürgerrechtlern unter den DDR-Bürgern langsam Resonanz fanden. Die schnellen Veränderungen im Ostblock führten 1989 zu einer Abkopplung verschiedener Staaten und zu ihrer Annäherung an den wirtschaftlich so attraktiv scheinenden Westen. Die engeren Beziehungen zum Westen ermöglichte es einer großen Gruppe von DDR-Bürgern, ihr Heil in der Flucht über diese Länder in den Westen zu suchen, was wiederum die Protestbewegung in der DDR verstärkte. Immer mehr Menschen schlossen sich den anfangs kleinen Demonstrationen an, bis am 4. November 1989 etwa eine Viertelmillion DDR-Bürger in Ost-Berlin demonstrierten. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Herrschaft der SED in der DDR ihre Grundlage schon verloren. Anders als die Kommunisten in China war die Führung der SED nicht bereit, massive Gewalt zum Machterhalt einzusetzen. Damit war ihr Ende besiegelt. Wenige Tage später öffnete sie im letztlich hoffnungslosen Bestreben, die Menschen in der DDR noch für sich zu gewinnen, die Mauer und besiegelte damit ihr eigenes Ende – und das ihrer Diktatur in der DDR.