Warum sprechen wir bei der DDR von einem „simulierten Verfassungsstaat“?
Dr. Stefan Donth
Verfassungen sind ein wesentlicher Bestandteil der Schaffung und Aufrechterhaltung einer rechtsstaatlichen Ordnung. Sie legen die Grundregeln und Prinzipien eines Staates fest, einschließlich der Organisation der Regierung und der Rechte der Bürger. Rechtsstaatlichkeit bedeutet, dass staatliche Maßnahmen, Gesetze und Entscheidungen im Einklang mit der Verfassung stehen müssen, um die Rechte der Bürger zu schützen und den Missbrauch von Macht zu verhindern.
Die drei in der DDR nacheinander gelten Verfassungen von 1949, 1968 und 1974 bildeten nur eine scheindemokratische Fassade, mit der die SED ihren absoluten Machtanspruch kaschieren wollte.
Die Verfassung von 1949
Diese Verfassung enthielt Anklänge an die Reichsverfassung der Weimarer Republik von 1919 sowie an das Grundgesetz und beinhaltete sogar noch einen Grundrechtskatalog: die Gleichheit aller Bürger, die persönliche Freiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Postgeheimnis, das Recht auf Niederlassung an einem beliebigen Ort auch außerhalb der DDR, das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Versammlungsrecht und das Streikrecht.
Zur Verfassungswirklichkeit gehörten allerdings die Durchsetzung der kommunistischen Diktatur, Enteignungen und die politische Justiz, die durch Artikel 6 gerahmt wurde.
„(1) Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleichberechtigt.
(2) Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhass, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches. Ausübung demokratischer Rechte im Sinne der Verfassung ist keine Boykotthetze.“
Dieser Verfassungsartikel 6 bildete die wichtigste Grundlage der politischen Justiz in der DDR. Er war ein klassischer Gummiparagraf: Es fehlten konkrete Tatbestandsdefinitionen und Strafrahmen. Auf dieser scheinjuristischen Grundlage konnten nach Belieben alle politischen Straftatbestände abgeurteilt werden.
Die Verfassung von 1968
1968, sieben Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer ließ Walter Ulbricht eine neue Verfassung verabschieden. Die DDR definierte sich nun in Artikel 1 als „einen sozialistischen Staat deutscher Nation“, der – als „politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land“ – „gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus“ verwirkliche. Ihre „führende Rolle“ hatte sich die Staatspartei SED nun auch verfassungsrechtlich abgesichert.
Um jedes Missverständnis über den Inhalt dieses Verfassungsgrundsatzes auszuschließen, veröffentlichte die SED 1969 einen Verfassungskommentar. Diese wichtige Publikation war in der DDR an vielen Stellen für alle Bürgerinnen und Bürger leicht zugänglich.
Nach diesem Kommentar „ist [im Artikel 1] die objektive Gesetzmäßigkeit formuliert, dass die Werktätigen den Sozialismus nur unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei verwirklichen können.“[1] Und weiter hieß es dort: „Die Verwirklichung der führenden Rolle der Arbeiterklasse erfordert, dass an ihrer Spitze die marxistisch-leninistische Partei steht.“[2] Der Kommentar enthält auch die wichtige Feststellung: „Daraus ergibt sich, dass die sozialistische Demokratie nicht mit der ‚repräsentativen‘ Demokratie oder einem beliebigen parlamentarischen System verglichen werden kann.“[3]
Einher ging der von der SED vorangetriebene Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft mit einer drastischen Beschneidung der persönlichen Freiheitsrechte. Weggefallen waren in der Verfassung von 1968 u. a. das Streikrecht und die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen.
Alle noch verbliebenen Grundrechte galten nur im Rahmen des politischen Systems der DDR und im Sinne der SED. Diese strikte Normbindung unterschied die DDR-Verfassung grundsätzlich von den Bestimmungen in demokratischen Verfassungsstaaten. Im Grundgesetz z.B. sind Einschränkungen der Grundrechte durch Gesetze geregelt, die konkrete Bestimmungen enthalten.
In der DDR-Verfassung besagte Art. 27, dass jeder Bürger der DDR das Recht habe, „den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern“, oder Art. 28, dass „alle Bürger das Recht“ haben, „sich im Rahmen der Grundsätze und Ziele dieser Verfassung friedlich zu versammeln“, oder Art. 29, dass Bürger der DDR das Recht auf Vereinigung haben, um „durch gemeinsames Handeln“ u. a. in politischen Parteien „ihre Interessen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung zu verwirklichen.“
Von besonderer Bedeutung für die Verfassungswirklichkeit in der DDR war die Vehemenz, mit der die SED den „Rechtsstaat“ – das heißt eine unabhängige Justiz – ablehnte und stattdessen von „sozialistischer Gesetzlichkeit“ sprach. Dazu führte der Verfassungskommentar in aller Deutlichkeit aus: „Das unheilvolle bürgerliche Prinzip der Gewaltenteilung, wonach die vollziehende Gewalt und noch mehr der Justizapparat durch die Ausstattung mit Sonderrechten von der ‚Legislative‘ mehr oder weniger unabhängig sind, gibt es in der DDR nicht.“[4]
Es gehörte zur DNA des SED-Staates, „dass die Unabhängigkeit der Rechtsprechung im Sinne der bürgerlichen Gewaltenteilung dem Sozialismus und dem mit ihm erstmals verwirklichten Prinzip der Volkssouveränität wesensfremd ist“ – so formulierte es 1970 der Justizminister der DDR in einer öffentlich zugänglichen Publikation.[5]
Das sozialistische Recht diente den Interessen der SED. Daran ließen hochrangige Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) keinen Zweifel aufkommen: „Das sozialistische Recht ist als das zu gebrauchen, was es ist, als Machtinstrument der Arbeiterklasse und ihres Staates.“ [6] Für die tägliche Arbeit der Sicherheitsorgane der DDR bedeutete dies: „Die Anwendung und Durchsetzung des sozialistischen Rechts insgesamt und des Straf- und Strafverfahrensrechts im Zusammenhang mit der Bearbeitung von Ermittlungsverfahren hat auf der Grundlage der Beschlüsse der Partei zu erfolgen.“[7]
Die SED-Führung setzte ihre Politik mit Hilfe des gesamten Staatsapparates um. Wer sich nicht systemkonform verhielt, wurde behindert, ausgegrenzt und verfolgt. Dabei übernahm das MfS eine wichtige Aufgabe. Im Rahmen des sogenannten „Politisch-operativen Zusammenwirkens (POZW)“ organisierte das MfS im Auftrag der SED die Zusammenarbeit mit staatlichen Organen wie etwa den Leitungen von Schulen, Universitäten und Betrieben, den Wohnungsverwaltungen, Geldinstituten, Ärzten, der Volkspolizei und weiteren staatlichen Einrichtungen, um Andersdenke und Oppositionelle in allen Lebensbereichen zu verfolgen. Für viele war die Repression auf den ersten Blick meist nicht erkennbar.
Die Verfassung von 1974
Die Verfassung von 1968 blieb zwar nur wenige Jahre in Kraft. Der eben dargestellte Grundtenor blieb aber erhalten
Erich Honecker strich 1974 zudem einige wichtige Bestimmungen wie etwa alle nationalen Bezüge mit Blick auf Deutschland und schrieb die vollständige Sozialisierung der verbliebenen Privatunternehmen in der Verfassung fest. Gleichzeitig wurden das Strafrecht Schritt für Schritt verschärft und Freiheitsrechte immer stärker eingeschränkt. In der DDR gab es mindestens 25 strafrechtliche Bestimmungen, nach denen Menschen aufgrund „politischer Delikte“ gezielt kriminalisiert und durch die Volkspolizei und den Staatssicherheitsdienst inhaftiert werden konnten.
Die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit für die Oppositionsbewegungen
Der Kampf um Freiheits- um Grundrechte durchzieht als bestimmendes Element die DDR-Geschichte. Viele Oppositionelle strebten nach einem Rechtssystem, das Gleichheit, Rechte und gerechte Verfahren vor den Gerichten gewährleistete, und das die Grundlage für den Schutz individueller Freiheiten und demokratischer Prinzipien bildete. Staatliches Handeln, dass oft von Willkür geprägt war und der Durchsetzung der Machtinteressen der SED diente, sollte – in einem modernen Rechtsstaat üblich – durch eine unabhängige Justiz überprüft werden können. Eine funktionierende Rechtsstaatlichkeit war entscheidend, um die staatliche Willkür zu beenden, politische Unterdrückung zu überwinden und die Demokratie auf rechtlichen Grundlagen zu etablieren. Sie diente als Fundament für die Durchsetzung von Freiheit, Gerechtigkeit und dem Schutz der Bürgerrechte, die eine wichtige Triebfeder des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 wie der Friedlichen Revolution 1989 bildeten.
Literaturhinweise
[1] Klaus Sorgenicht u. a. (Hrsg.): Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumente. Kommentar, Bd. 1, Staatsverlag der DDR Berlin 1969, S. 225.
[2] Klaus Sorgenicht u. a. (Hrsg.): Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumente. Kommentar, Bd. 1, Staatsverlag der DDR Berlin 1969, S. 226
[3] Klaus Sorgenicht u. a. (Hrsg.): Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumente. Kommentar, Bd. 1, Staatsverlag der DDR Berlin 1969, S. 281
[4] Klaus Sorgenicht u. a. (Hrsg.): Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumente. Kommentar, Bd. 1, Staatsverlag der DDR Berlin 1969, S. 279
[5] Kurt Wünsche: Zur Wahl der Richter und Schöffen der Kreisgerichte sowie der Mitglieder der Schiedskommissionen, in: Neue Justiz 24 (1970), S. 33.
[6] Oberstleutnant Horst Zank u.a.: Grundlegende Anforderungen und Wege zur Gewährleistung der Einheit von Parteilichkeit, Objektivität, Wissenschaftlichkeit und Gesetzlichkeit in der Untersuchungsarbeit des MfS im Ermittlungsverfahren. Kollektivarbeit an der Juristischen Hochschule des MfS, Potsdam 1981. Bundesarchiv, Stasiunterlagenarchiv, ZA, JHS 20092, Bl. 44.
[7] Oberstleutnant Horst Zank u.a.: Grundlegende Anforderungen und Wege zur Gewährleistung der Einheit von Parteilichkeit, Objektivität, Wissenschaftlichkeit und Gesetzlichkeit in der Untersuchungsarbeit des MfS im Ermittlungsverfahren. Kollektivarbeit an der Juristischen Hochschule des MfS, Potsdam 1981. Bundesarchiv, Stasiunterlagenarchiv, ZA, JHS 20092, Bl. 44.