Repression

„Schwer erziehbar“: Wie formt man sozialistische Persönlichkeiten und was wurde Kindern und Jugendlichen dafür angetan?  

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„Weggesperrt“
Kurzer Auszug aus dem Hörbuch
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Berichten ehemalige Heimkinder auch von positiven Erfahrungen?

Die Forschung zeigt

Im Forschungsprojekt Testimony der Universität Leipzig wurden mehr als 270 Menschen mit Heimerfahrung befragt. Die Berichte, so die Analysen der Wissenschaftler*innen, „weisen nahezu ausnahmslos schlechte Beziehungserfahrungen in den ehemaligen Heimen vor“. Zitiert wird aber auch eines der wenigen Berichte positiver Erfahrungen:

»Der Erzieher, der für mich zuständig war, der hat sich eben halt sehr eingesetzt (…), das war sehr nützlich für mich«. Doch auch hier folgte bald ein Beziehungsabbruch: »Für ihn halt weniger nützlich, weil er wurde danach entlassen«

(Zeitzeuge Kurt Wiegand, zitiert nach Gabriel, M. et al, (2023)Die Bedeutung von Beziehung, in: Sozialmagazin Ausgabe 2, 2023, Seite 57.)

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Weggesperrt – übertreibt Grit Poppe in ihrem Jugendroman?

„Wieso bin ich hier? Die Frau zog die Augenbrauen hoch. Dann schnaubte sie wie ein Pferd. Anja war sich nicht sicher, ob das ein Lachen sein sollte. … „Mädchen, das wirst wohl besser wissen als ich, warum du hier bist,“ sagte sie vorwurfsvoll. Anja schüttelte zögernd den Kopf. Die Frau seufzte. Sie legte eine leere Plastiktüte auf den Tisch. „Da kommen jetzt erst mal deine persönlichen Sachen hinein,“ sagte sie. Anja rührte sich nicht. Sie starrte die Frau ungläubig an. Sie war blass, so blass, als hätte sie das letzte halbe Jahr keinen einzigen Sonnenstrahl abbekommen. „Nun mach schon! Uhr, Schlüssel, Kette, Portemonnaie… Das brauchst du hier alles nicht.“ Anja blickte auf das Zifferblatt. Sie sah den Sekundenzeiger im Kreis herumwandern. „Wieso?“ fragte sie wieder. Die Frau schnaufte. „Ist das zu fassen? Willst du gleich am Anfang Ärger machen?“ Anja schüttelte den Kopf. „Wo bin ich?“ fragte sie. Die Frau legte den Hals schief, wie ein Vogel, der auf Futter wartet und musterte Anja. Du weißt wohl nicht, wo du hier bist, stimmt’s? Ist wohl das erste Mal, was? Du bist in einem  D-Heim, Mädel. In einem Durchgangsheim der Jugendhilfe.“

Grit Poppe (2009): Weggesperrt, Kapitel 3.

Der Stoff des Jugendromans bezieht sich auf die sogenannten Jugendwerkhöfe, Spezialheime für Kinder und Jugendliche, die als „schwer erziehbar“ galten und „deren Umerziehung in ihrer bisherigen trotz optimal organisierter erzieherischen Einwirkung der Gesellschaft nicht erfolgreich verlief.“ (§ 1, Abs. 2, Anordnung über die Spezialheime der Jugendhilfe (1965). 

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Weggesperrt! – Übertreibt Grit Poppe in ihrem Jugendroman?

Der Anfang des dritten Kapitels der Jugendbuches „Weggesperrt“ von Grit Poppe wird zitiert.
Anhand der Figur Anja erzählt Grit Poppe über die Erfahrungen Jugendlicher in DDR Kinderheimen.

Die Materialspalte stellt auf im ersten Block das Jugendbuch näher vor, in einer Bildergalerie mit a) Cover, b) Link zu einer Inhaltsangabe, c) einer ansich sehr positiven Kritik, die aber anmerkt, dass Opfer-Täter sich sehr holzschnittartig gegenüber stehen.

Im zweiten Block  wird die Frage gestellt, ob Heimkinder auch Positives aus Ihrer Zeit im Heim berichten, insbesondere zum Bezug zwischen Erzieher*innen und Jugendlichen. Eine entsprechende Publikation ist für Sommer 2024 angekündigt. Damit wird auch die am Jugendbuch geäußerte Kritik aufgegriffen. Hierzu passend wird die Studie Testimony vorgestellt, in der im Jahr 2021 mehr als 270 ehemalige Heimkinder befragt wurden, mit dem Ziel, nicht nur mehr über den Umgang mit als „schwererziehbar“ eingestuften Kindern und Jugendlichen aus der DDR zu erfragen, sondern auch die Nachwirkungen im späteren Leben.  Aus beidem werden zusammen mit den ehemaligen Betroffenen Konsequenzen für Heimerziehung heute diskutiert. Dabei wird die Notwendigkeit positiver Beziehungen sehr betont. Ein Zeitzeuge berichtet auch von einem zugewandten Erzieher, der für ihn sehr bedeutsam war, der genau wegen seines Interesses für die Jugendlichen entlassen wurde.

Links zum Thema

Hier kannst du Dich über den weiteren Inhalt des Buches informieren.

https://www.kinderundjugendmedien.de/kritik/jugendroman/866-poppe-grit-weggesperrt

Unter demselben Link befindet sich auch eine Kritik am Buch:

„Grit Poppe erzählt in Weggesperrt eine durch und durch düstere Geschichte. Von der ersten bis zur letzten Seite vermittelt der Text beklemmende Gefühle, schockiert und bestürzt den Leser zutiefst. Schonungslos und offen zeichnet die Autorin das Schicksal ihrer Protagonistin nach, die zwar eine fiktive Figur ist, deren Darstellung sich jedoch eng an der Realität orientiert und somit tatsächlich an das Grauen erinnert, das die jugendlichen Insassen im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau in der DDR erfuhren. Aufklärung über die Zustände dort ist das deutliche Anliegen des Textes. Damit wendet sich Grit Poppe einem bislang wenig beachteten Thema der DDR-Geschichte zu und legt mit Weggesperrt den ersten Jugendroman darüber vor.Kritisch anzumerken ist aber, dass sich die Darstellung einem starken Täter-Opfer-Topos verhaftet zeigt … Die jugendlichen Opfer stehen den bösen Tätern gegenüber, die ihre Repräsentation in den Erziehern finden.

https://www.kinderundjugendmedien.de/kritik/jugendroman/866-poppe-grit-weggesperrt

a) Schlaglichter: Zeitzeug*innen zu ihrem Aufenthalt im Jugendwerkhof Torgau

(Aus der Scrollstory „Im Takt“)

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Auf dem Schulweg von der Stasi ins Heim entführt.
Es gab Gewalt von den Erzieher*innen.
Unter den Kindern herrschte Kollektiv-Brutalität.
„Erzieher*innen“ waren Spitzel statt Vertrauenspersonen.
Eine besonders harte Strafe war der Dunkelarrest.
Sexuelle Nötigung war kein Einzelfall, dass es sie gab, war bekannt, das Verbrechen wurde aber nicht geahndet, die Täter*innen blieben unbestraft.
Wurde man entlassen, musste man eine Schweigeverpflichtung abgeben.
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b) „Im Takt“ eine Scrollstory

Hier hast du die Möglichkeit dir die ganze Scrollstory anzusehen.

„Im Takt“
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Schwererziehbar?

Im Mai 1989 existierten in der DDR ca. 400 Normalkinderheime und gut 70 Spezialkinderheime, darunter 41 Jugendwerkhöfe sowie der geschlossene Jugendwerkhof Torgau. In der DDR waren etwa 500.000 Kinder und Jugendliche in den Heimen der DDR-Jugendhilfe, 135.000 als Schwererziehbare in den Spezialheimen; ca. 6.000 Jugendliche im Jugendwerkhof Torgau.

Wer als schwererziehbar aus den Familien genommen wurde, das entschied der Staat – ohne rechtsstaatliches Verfahren, in den meisten Fällen ohne Zustimmung der Eltern. „Disziplinschwierigkeiten“, „Schul- und Arbeitsbummelei“, eine „fehlende sozialistische Erziehung“ durch die Eltern oder Kritik am sozialistischen Gesellschaftssystem, dazu (klein-)kriminelle Delikte wie Diebstahl, Sachbeschädigung, Körperverletzung und Passvergehen waren die häufigsten Gründe für die Heimeinweisung.

Das Ziel war ein Umerziehungsprozess. Die Jugendlichen sollten als „politisch-ideologisch gefestigte, charakterlich stabile und lebenstüchtige“ junge Menschen in die sozialistische Gesellschaft entlassen werden. Dem sollte eine „Kollektiverziehung“ mit produktiver Arbeit, Disziplin, Ordnung und Sauberkeit, militärischem Drill und politisch-ideologischer Schulung dienen. Dazu kamen – von Heim zu Heim in unterschiedlichem Ausmaß – illegale Strafen  wie Entzug von Nahrung bzw. Zusatzverpflegung, körperliche Strafen, Arrest und Isolierung, Strafarbeit, Strafsport und militärische Übungen bis zur Erschöpfung, aber auch Duldung oder Förderung von Misshandlungen der Insassen untereinander (Selbsterziehung).

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Schwererziehbar?

Es werden Grundinformationen zur Heimerziehung in der DDR gegeben. Dabei wird das Ziel der Umerziehung betont. Die Jugendlichen sollten als „politisch-ideologisch gefestigte, charakterlich stabile“ und „lebenstüchtige“ junge Menschen in die sozialistische Gesellschaft entlassen werden.

Die Materialspalte stützt sich auf eine preisgekrönte Scrollstory. Im Takt der in zwei Episoden das Ankommen, in sieben das Leben in Torgau und in einer das Danach erzählt wird. Zeitzeugen berichten dabei.

a) Song „Die Zeit danach“ der Liedermacherin Kathrin Begoin, die selbst Heimkind in Torgau war.

„Die Zeit danach“

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b) Staatliche Maßnahmen im wiedervereinigten Deutschland, um das erfahrene Unrecht der DDR-Heimunterbringung anzuerkennen und zu lindern 

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Strafrechtliches Rehabilitationsgesetz
Rehabilitierung der DDR-Heimkinder

„Nach § 2 StrRehaG ist das Gesetz auf alle Rechtsstaatswidrigen Freiheitsentziehungen anzuwenden. Eine Aufgabe des Rehabilitierungsverfahrens ist zu überprüfen, ob es ein Missverhältnis zwischen dem Anlass für eine Freiheitsentziehung anordnende Entscheidung und den angeordneten Rechtsfolgen vorgelegen hatte, ebenso bei den Einweisungen in psychiatrische Anstalten.“

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Und danach?

Die Heimerziehung in der DDR war jahrelang weder Forschungsthema noch wurde sie in der Öffentlichkeit oder im Privaten diskutiert. Die Betroffenen haben – aus ganz unterschiedlichen Gründen – viele Jahre lang geschwiegen. Manche wollten vergessen und ihren Traumatisierungen keinen Raum geben, sie wollten sich selbst nicht als ohnmächtiges Opfer sehen. Andere wollten nicht mit dem Stigma der Einweisung in ein Schwererziehbaren-Heim leben. Einige hatten sicher auch Angst, die erzwungene Schweigeverpflichtung, die sie eingegangen waren, zu brechen.

Erst in den letzten Jahren wurde die DDR-Heimerziehung Thema von Forschungen und Studien, aber auch in der Politik: Im Rahmen der 2023 vorgestellten Studie Testimony z.B., haben Forscher*innen nicht nur mit insgesamt 273 Betroffenen gesprochen und Akten gesichtet, sondern auch Therapieansätze für die erfahrenen Traumatisierungen entwickelt. Politisch wurden Maßnahmen ergriffen, um das erfahrene Leid anzuerkennen und möglichst zu lindern: Rehabilitation, Opferrente und andere Gelder wurden den ehemaligen Heimkindern zugestanden. Ihre Erfahrungen werden in den Medien, vermehrt auch in den Familien diskutiert. Traumatisierungen mit Folgen bis heute wurden immer mehr zum Thema gemacht.

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Und danach?

Die Sektion berichtet, dass nach langem Schweigen in den letzten Jahren die DDR-Heimerziehung Thema von Forschungen und Studien, aber auch in der Politik und im Privaten wurde. Angerissen wird dabei, dass im vereinigten Deutschland mit Rehabilitationsmaßnahmen auf das erfahrene Unrecht reagiert wird.

In der Materialspalte findet sich zum eine ein Song einer Betroffenen, der die Erfahrungen nach der Entlassung (1989, nach der Friedlichen Revolution) darstellt. Zum anderen findet sich ein Ausschnitt aus dem seit 2019 gültigen Rehabilitationsgesetz für ehemalige Heimkinder.

Nächstes Kapitel

Wir empfehlen dir, mit diesem Kapitel weiter zu machen.

Alternativ kannst du weiter unten auch direkt zu einem anderen Kapitel springen, das dich interessiert.

Wir haben für Dich aufgrund deines Profils einen geführten Durchgang durch das Thema „Repression – auf Dauer nicht aushaltbar“ vorbereitet. Wenn dich zusätzlich noch ein anderes Kapitel interessiert, klick es an!

Am Ende solltest du dich mit dem Abschlusskapitel befassen.
Dort bekommst du nicht nur eine kurze Zusammenfassung zu Repressionen in der DDR.
Du erfährst auch, wie Menschen, für die die Repressionsmaßnahmen ihres Staates nicht mehr aushaltbar waren, zu „Motoren der Veränderung“ wurden. Wir stellen Dir dazu das Beispiel der BLUES-Messen in einer Berliner Kirche vor.
Dass es Dir nützt, Dich mit Repression in einer Diktatur auseinandergesetzt zu haben, verdeutlichen wir zum Schluss am „Heißen Thema“ Polizeigewalt bei uns in Deutschland.

Sei gespannt!

Kapitel Repression

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