Die SED-Diktatur

Prof. Dr. Ralph Jessen

Manche bestreiten, dass in der DDR eine Diktatur geherrscht hat. Der Staat hieß schließlich „Deutsche Demokratische Republik“, es gab eine Verfassung, allgemeine Wahlen und ein Parlament. Zahllose Menschen wirkten in Parteien und Organisationen mit und im Alltag war die Politik manchmal weit weg. Und überhaupt: Stellt der Begriff der „Diktatur“ die DDR nicht auf eine Stufe mit der Naziherrschaft zwischen 1933 und 1945? Die DDR, die radikal mit der brauen Vergangenheit gebrochen hatte und wo der Antifaschismus zur Staatsräson gehörte? Wer so argumentiert, redet entweder an der Sache vorbei oder leugnet grundlegende historische Tatsachen. Antidemokratische, diktatorische Herrschaft kann sehr verschiedene Formen annehmen, wie der Vergleich zwischen DDR und NS-Regime zeigt, was aber nichts an ihrem diktatorischen Charakter ändert. Und natürlich muss man zwischen dem schönen Schein der Propaganda und den realen Machtverhältnissen unterscheiden. Verfassung, Parlamente, Parteienvielfalt, Wahlen und Gesetze waren in der DDR nicht Ausdruck eines ernstzunehmenden Versprechens von Demokratie, Freiheit, Volkssouveränität, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit, sondern dienten der Verschleierung der kommunistischen Parteidiktatur.

Wie diese Bezeichnung schon sagt, lag die Macht nicht in den Händen eines charismatischen Führers, des Militärs oder der Geheimpolizei (obwohl diese für die Sicherung des Regimes eine wichtige Rolle spielte), sondern der kommunistischen Partei. Dass die in der DDR den Namen „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“ (SED) hatte, beruhte darauf, dass im Frühjahr 1946 die Sozialdemokratische Partei in Ostdeutschland gezwungen wurde, sich mit der KPD zu vereinen. Schon nach kurzer Zeit war allerdings von sozialdemokratischen Traditionen nichts mehr zu spüren und hatten sich die kommunistischen Funktionäre mit massiver Unterstützung der sowjetischen Besatzungsmacht durchgesetzt. Ab 1947/48 wurde die SED nach dem Modell der sowjetischen kommunistischen Partei umgestaltet; Anfang der 1950er Jahre war dieser Prozess abgeschlossen. Drei grundlegende Merkmale machten „die Partei“ zu einem Machtapparat mit totalem Herrschaftsanspruch:

  1. Die Ideologie des „Marxismus-Leninismus“, die von allen Parteimitgliedern bedingungslos akzeptiert werden musste. Man berief sich dabei auf die Schriften von Karl Marx und des russischen Revolutionsführers Lenin. Wie diese zu lesen und zu interpretieren waren, stand nicht zur Diskussion, sondern wurde allein von der SED-Führung entschieden. Von Marx stammte die geschichtsphilosophische Utopie, dass die kapitalistische Klassengesellschaft durch eine gerechte sozialistische Gesellschaft abgelöst werden müsse, aus der sich in Zukunft eine kommunistische Gesellschaft der Gleichheit, der Freiheit und des Wohlstands entwickeln würde. Auf Lenin ging die folgenschwere Erfindung eines neuen Parteikonzepts zurück: Die kommunistische Partei, die im alleinigen Besitz der Wahrheit war und die stellvertretend für die unwissenden Massen der Bevölkerung den historischen Fortschritt vorantreiben sollte – mit allen Mitteln.

  2. Die Partei. Unter dem sowjetischen Parteiführer Stalin entwickelte sich Lenins Parteimodell seit den 1930er Jahren zu einer gewaltigen Machtmaschine: Alle Macht konzentrierte sich im „Politbüro“ an der Spitze, dessen Entscheidungen für die Mitglieder der Partei bindend waren. Ein großer bürokratischer Apparat hauptamtlicher Funktionäre sorgte für deren Umsetzung. Die innerparteiliche Meinungsbildung verlief strikt von oben nach unten, eine wirksame Kontrolle der Parteiführung durch die Mitgliedschaft war ausgeschlossen. Abweichungen wurden nicht geduldet und zogen scharfe Strafen nach sich – unter Stalin konnte das Lagerhaft oder den Tod bedeuten, in der DDR stand mindestens die berufliche Karriere auf dem Spiel. Die Parteimitglieder mussten sich intern einer strikten Disziplin unterwerfen und sollten nach außen, an ihrer Arbeitsstelle, in der Öffentlichkeit, in Vereinen und Organisationen, jederzeit die Politik der Parteiführung durchsetzen. Dem gleichen Zweck dienten die von der Partei kontrollierten und zensierten Massenmedien. Von freier Öffentlichkeit und freier Meinungsäußerung konnte keine Rede sein. Parteimitgliedschaft bedeutete Unterwerfung unter die innerparteiliche Diktatur, brachte aber auch Privilegien, förderte die Karriere, verlieh Macht über andere und vermittelte das Gefühl, Teil einer verschworenen Gemeinschaft zu sein, die auf der „richtigen Seite“ der Geschichte stand.

  3. Die Parteidiktatur. Die SED wurde von einer unkontrollierbaren kleinen Funktionärselite geführt, war aber zugleich eine Riesenorganisation, die 1988 rd. 2,3 Mio. Mitglieder hatte. Die Parteigruppen mit ihren zahllosen kleineren und größeren Funktionären waren in allen Betrieben, Behörden, Ministerien, Redaktionen, Verlagen, Vereinen und Gewerkschaften, im Militär, in der Polizei, in Schulen, Universitäten und Akademien präsent. Kurz: Die SED durchdrang mit Ausnahme der Kirchen praktisch alle Bereiche der Gesellschaft und bemühte sich darum, dort die Entscheidungen der Parteiführung durchzusetzen. Auch wenn das im Alltag nicht immer und überall gelang und es viel Routine und Leerlauf gab, war „die Partei“ der zentrale Pfeiler der Diktatur. Alle Gesetzesvorlagen mussten vom Politbüro der SED genehmigt werden, bevor sie vom Parlament – der „Volkskammer“ – verabschiedet wurden. Das geschah fast immer einstimmig, denn alle Parteien und Verbände, die in diesem Scheinparlament saßen, wurden von der SED-Führung kontrolliert und gesteuert. Die Volkskammerwahlen, die mit viel Aufwand veranstaltet wurden, hatten keinerlei Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments; das Wahlergebnis stand vorher fest. Und so, wie die Parteispitze und der „Apparat“ des „Zentralkomitees“, dem 1988 rd. 2.000 Mitarbeiter angehörten, die Ministerien, die Volkskammer, die Spitzen der Verwaltung und aller möglichen Organisationen „anleiteten“, taten dies die mittleren und unteren Parteiorgane auf der Ebene der Bezirke, Kreise, Städte und Gemeinden.

Die „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“ bildete das Zentrum diktatorischer Herrschaft in der DDR: Niemand konnte sie „abwählen“, vor keinem Gericht konnte man sich gegen ihre Entscheidungen oder gegen die Maßnahmen staatlicher Behörden wehren, alle Massenmedien standen unter ihrer Kontrolle, Kritik an der SED konnte man bestenfalls zwischen den Zeilen mancher mutigen Schriftsteller lesen. Zum Bauplan der SED-Diktatur gehörte aber nicht nur „die Partei“, die sich radikal von den Parteien im demokratischen Verfassungsstaat unterschied. Um zu verstehen, wie sich deren Herrschaft über immerhin vierzig Jahre behaupten konnte, sind wenigstens vier weitere Faktoren zu berücksichtigen:

  1. Die Sowjetunion. Vom Anfang bis zum Ende hing die SED-Herrschaft von der Unterstützung durch die Sowjetunion ab. Der Gründungskern der Partei bestand aus ein paar Dutzend kommunistischer Funktionäre, die 1945 aus dem Moskauer Exil in die sowjetische Besatzungszone zurückkehrten. Der Parteiaufbau folgte dem sowjetischen Muster. 1953 bewahrten sowjetische Truppen das Regime vor dem Zusammenbruch. Auch danach mussten alle wichtigen Entscheidungen von Moskau genehmigt werden. Als der sowjetische Parteichef Gorbatschow 1985 seinen Kurs innerer Reformen einleitete, begann die Krise der SED und vier Jahre endete ihre Herrschaft.
     
  2. Arbeite mit, plane mit, regiere mit“, forderte die SED die Bürger der DDR auf. Man darf sich die SED-Diktatur nicht so vorstellen, dass sich „Partei“ und „Bevölkerung“ strikt getrennt gegenüberstanden. Die allermeisten DDR-Bürger waren über zahllose Organisationen in die politische Ordnung einbezogen. Zwar konnten sie dort weder frei ihre Meinung sagen, noch eigenständige Aktivitäten entfalten. Aber sie wurden zum Mitmachen animiert, wurden mobilisiert, sollten ihre Verbundenheit mit dem Sozialismus demonstrieren. Obwohl sie natürlich nicht wirklich „mitregierten“, waren sie durch viele kleine Alltagspraktiken in das System integriert: Als Mitglieder der Jungen Pioniere, der Freien Deutschen Jugend, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, des Kulturbundes, des Demokratischen Frauenbundes, der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft oder wie die anderen Verbände in dieser kommunistischen „Organisationsgesellschaft“ sonst noch geheißen haben.
     
  3. Sozialistischer Sozialstaat. Der amerikanische Historiker Konrad H. Jarausch hat die späte DDR unter Erich Honecker einmal treffend als „Fürsorgediktatur“ bezeichnet. Um ihre Herrschaft zu stabilisieren und zu rechtfertigen, um die Bevölkerung ruhig zu stellen und für den „real existierenden Sozialismus“ einzunehmen, versprach das Regime materielle Sicherheit und patriarchalische Fürsorge. Der SED-kontrollierte Staat war nicht demokratisch legitimiert und an kein Recht gebunden. Aber er garantierte ein „Recht auf Arbeit“, sorgte für Kindergärten, billige Straßenbahntickets und Ferienplätze an der Ostsee. Statt frei gewähltem Konsum gab es bürokratisch regulierte „Versorgung“. Obwohl die DDR-Bürger dessen Unzulänglichkeiten mürrisch kommentierten, sahen sie den autoritären Wohlfahrtsstaat als selbstverständlich an.
     
  4. Gewalt. Zweifellos stand die Gewaltsamkeit der SED-Diktatur auf einer ganz anderen Stufe als die entgrenzten Vernichtungsgewalt der Nationalsozialisten oder Stalins Terror in der Sowjetunion. Wer das bestreitet, relativiert deren Massenverbrechen. Dennoch beruhte auch die Diktatur in der DDR auf der Möglichkeit, Herrschaft gewaltsam durchzusetzen, ohne dabei an irgendwelche rechtlichen Regeln und Grenzen gebunden zu sein. Von der „Mauer“, dem Schießbefehl an der Grenze, dem Stasi-Knast in Berlin-Hohenschönhausen und den „Jugendwerkhöfen“ bis zu den subtilen Methoden der „Zersetzung“, mit denen der Staatssicherheitsdienst politische Gegner auszuschalten versuchte, reichte ein breite Palette unkontrollierter Gewalt. Wie sehr das Regime von dieser Gewalt abhing, zeigte sich im Herbst 1989. Als die Mauer fiel, war es mit der SED-Diktatur vorbei.
     

Literaturhinweise

  • Andrea Bahr, Parteiherrschaft vor Ort. Die SED-Kreisleitung Brandenburg. 1961-1989, Berlin 2016.
  • Rüdiger Bergien, Im „Generalstab der Partei“. Organisationskultur und Herrschaftspraxis in der SED-Zentrale, 1946–1989, Berlin 2017.
  • Michel Christian, Jens Gieseke, Florian Peters, Die SED als Mitgliederpartei. Dokumentation und Analyse, Berlin 2019.
  • Ralph Jessen, Jens Gieseke, Die SED in der Staatssozialistischen Gesellschaft, in: Jens Gieseke; Hermann Wentker (Hg.), Die Geschichte der SED. Eine Bestandsaufnahme, Berlin 2011, S. 16-59.
  • Andreas Malycha, Die SED – Geschichte ihrer Stalinisierung. 1946-1953, Paderborn 2000.